SF04 Visionen finden, Visionen erneuern

Wir müssen die eigenen Zielbilder immer wieder überprüfen

Grippe: Zeit zum Nachdenken

Kennen Sie die Situation? Da ich die letzten Tage mit Grippe im Bett gelegen habe, blieb mir mehr als genug Zeit zum Nachdenken. Immer wieder regte sich bei mir Unzufriedenheit: Bin ich auf dem richtigen Kurs?
So wie der Körper sein Immunsystem stärkt und viele andere Funktionen erst einmal herunterfährt – z.B. Nahrungsaufnahme und -verdauung – so fällt mir in der Krankheit erst auf, mit wie vielen nebensächlichen Dingen ich mich beschäftige. Für mich waren diese Grippe-Tage eine zwar nicht herbeigesehnte, aber dann doch willkommene Gelegenheit, wieder über meine Zukunftsbilder nachzudenken.

Als Begleiter unternehmerischer Menschen habe ich es in Strategieklausuren, aber auch in Einzelcoachings immer wieder erlebt, dass eigentlich sehr erfolgreiche Menschen den eigenen Kurs verloren hatten. Im persönlichen Gespräch räumen viele weibliche oder männliche Gründer, Mittelständler, Freiberufler wie auch angestellte Führungskräfte ein, dass der eigene Erfolg im Laufe der Jahre den Misserfolg vorbereiten kann. Als Organisationsberater und Coach habe ich zahlreiche Menschen in Unternehmen erlebt, deren Projekte sich entwickelten und deren Unternehmen zunächst schnell wuchsen, die als Menschen aber immer risikoscheuer oder sozial problematischer wurden. Die Veränderungen im persönlichen Verhalten wirken sich auf das Betriebsklima, auf die Innovationsfähigkeit und letztlich auf den Geschäftserfolg negativ aus. Als wesentliche Ursachen erkenne ich mangelnde Bereitschaft und auch Unfähigkeit, sich – im Sinne einer gelingenden Selbstführung – immer wieder kritisch selbst in Frage zu stellen. Häufig handelt es sich um eine Art Erstarrung, es fehlt die Weiterentwicklung und Vitalisierung der eigenen Zukunftsbilder oder Visionen.

Visionen flexibel halten

Visionen sind Zukunftsbilder. Oder, genauer definiert:
„Vision“ bezeichnet ein starkes, prägnantes und wünschenswertes Zukunftsbild, das erreichbar und gleichzeitig herausfordernd ist.
Auch anerkannte Fachautoren betonen den Stellenwert klarer Zukunftsbilder, so zum Beispiel Stephen Covey, der Vision als „das Vermögen, über unsere gegenwärtige Realität hinauszublicken, etwas noch nicht existierendes zu erfinden und zu schaffen, jemand zu werden, der wir noch nicht sind“ umschreibt. Der amerikanische Organisationsentwickler Peter Senge betont, dass Vision die eigene Berufung meint und nicht nur eine gute Idee. Die persönliche Vision ist nicht statisch, wie Senge betont: „Man muss seine wahren Ziele, seine eigenen Visionen in einem kontinuierlichen Prozess klären und immer wieder neu klären.“

Wenn ich weiß, wohin ich will und was mich antreibt, dann bin ich weniger anfällig für Ablenkungen, kann mich leichter fokussieren. Allerdings hat eine starre Zielperspektive auch Nachteile. In unserer schnelllebigen Zeit genügt es allerdings nicht, „die“ Idee oder Vision zu finden und dann über Jahre zu verfolgen. Viele Gründer und Mittelständler bestätigen, dass die persönliche Vision immer wieder einer kritischen Überprüfung unterzogen und weiterentwickelt werden muss. Klare Zukunftsbilder sind folglich noch lange kein Garant für langfristigen Erfolg, im Gegenteil: viele Projekte scheitern daran, dass stur an einmal gesetzten Zielvorstellungen festgehalten wird und es an Flexibilität mangelt. Gefahren sind dabei vor allem die Vernachlässigung unternehmerischer Gelegenheiten und das Übersehen von Veränderungen im Markt. Ebenso problematisch für den unternehmerischen Menschen kann es sein, wenn dieser durch vermeintliche oder tatsächliche Erfolge vereinsamt, sich verhärtet und letztlich aus allen sozialen Gefügen herausfällt.

Fallbeispiele Dittmann, Maurer, Qani

Beim ersten Leadership Development Congress im September 2014 hatten wir den Skateboardpionier Titus Dittmann als ersten Keyspeaker zu Gast. Er hat uns tatsächlich „gerockt“ und vordergründige Bilder  eines erfolgreichen Unternehmers auf den Kopf gestellt. Für Titus ist es eine zentrale Erkenntnis, dass man sich nur treu bleibt, wenn man sich in Frage stellt und weiterentwickelt. Dittmann, eigentlich Lehrer, erkannte für sich, dass in diesem Beruf keine Erfüllung für ihn liegen würde. Mit dem Import von Skateboards aus den USA fand er seine Nische. Er startete mit dem eigenen Wohnzimmer als Verkaufsraum, baute sukzessiv eine Firmengruppe auf und hatte grandiosen Erfolg. Ein geplanter Börsengang scheiterte, auch aufgrund falscher Führungskräfteauswahl – sein eigener Fehler. In der Folge führte er seine Unternehmen durch eine schmerzliche Krise und sah sich selbst mit Existenzangst konfrontiert. Für ihn war der Lösungsweg durch eine Besinnung auf seine eigenen Werte, den Rückhalt der Familie und die radikale Neuausrichtung der Firmen gekennzeichnet. Die Firmen konnten neu aufgestellt und der persönliche Ruin verhindert werden. Titus Dittmann hatte zwischenzeitlich die Regie an seinen Sohn gegeben – in der Krise wurde er selbst wieder zum Regisseur des eigenen Lebens und widmet sich seiner Stiftung skate-aid.

Die kreativen Entrepreneure zeigen auf, wie dies gelingen kann: der Lichtgestalter Ingo Maurer kann seine Visionen und Ideen im Wechsel der Orte – Wüste, New York und München – weiterentwickeln. Von der Exilafghanin und erfolgreichen Sozialunternehmerin Nadia Qani lernen wir, wie sie ihr Zukunftsbild gerade dadurch erreicht, dass sie sich auch den scheinbar einfachen oder nebensächlichen Jobs auf ihrem Karriereweg völlig zuwendet und diese Erfahrungen später integriert. Ich habe allen drei genannten Entrepreneuren in meinem zweiten Buch Selbstführung. Wie sich kreative Entrepreneuere erfolgreich organisieren jeweils ein ausführliches Kapitel gewidmet.

Was tun, wo ansetzen?

Meine persönliche Erkenntnisse decken sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen: starre Visionen sind kontraproduktiv, es geht um Kursüberprüfung und Nachjustierung. Den Coachingkunden empfehle ich, mindestens jährlich in eine persönliche Klausur zu gehen und Leitfragen wie diese zu stellen:

Welche Zukunft strebe ich an?
Was will ich zur Entfaltung bringen?
Welchen Sinn und Zweck verbinde ich mit meinem Leben?
Was hat sich in mir oder in meinem Handlungskontext geändert und wie beeinflusst dies meine Vision?

Fragen wie diese erlauben es, die eigene Vision kritisch zu überprüfen und weiter zu entwickeln. Damit bleiben wir offen für neue unternehmerische Gelegenheiten, können diese einbeziehen und sinnvoll nutzen – und behalten die Regie. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang eine konstruktive innere Einstellung, wie zum Beispiel:

Ich begreife mein Leben als schöpferisches Werk oder:
Ich sehe mich als unternehmerischen Menschen mit klaren Zielen, der die Gelegenheiten auf meinem Weg integriert.

Rituale schaffen

Die Geschichten erfolgreicher Unternehmer belegen, dass persönliche Mission und eigenes Zukunftsbild mit Flexibilität gepaart sein müssen. Es gilt, bei aller Konsequenz in der Verfolgung der eigenen Zielvorstellung auch Offenheit und Veränderungsbereitschaft zu besitzen, um die Gelegenheiten auf dem eigenen Weg zu erkennen und zu integrieren. Ich hatte zu Beginn dieses Podcasts berichtet, dass ich durch meine hartnäckige Grippe zum Nachdenken über meine Zukunftsbilder gekommen bin. Zum Abschluss der Rat an alle Hörerinnen und Hörer: Warten Sie nicht, bis Sie krank im Bett liegen. Schaffen Sie sich statt dessen persönliche Auszeiten, in denen Sie den eigenen Kurs überprüfen. Das kann der lange Spaziergang mit einem Diktiergerät (oder der Diktierfunktion Ihres Smartphones) sein. Das kann auch die Klausur sein, die Sie als kollegiale Beratung durchführen. Für mich immer wieder hilfreich: lange Bahnfahrten, bei denen ich mich einige Stunden der Analyse und Planung in eigener Sache widmen kann.

Fazit:

Visionen sind Zukunftsbilder. Damit sie uns wirksam in unserer Entfaltung unterstützen können, sollten wir sie immer wieder kritisch überprüfen.
Dabei bleibt es nicht aus, unsere Zielvorstellungen und die sich verändernde Wirklichkeit neu zu arrangieren. Wir bleiben im Regiesessel unseres Lebensfilmes, wenn wir uns selbst regelmäßig in Frage stellen und unser Leben als schöpferisches, sich entfaltendes Werk ansehen. Selbstführung gelingt, wenn wir Dynamik, Unvorhersehbares und neue Gelegenheiten in unsere Pläne einbeziehen.

P.S.: Ich beziehe mich in diesem Podcast umfassend auf den Artikel in WIR Ausgabe 06/2014 – hier ist der link.

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