SF183 Plädoyer für maßvolle Unordnung im Büro

 


Von der Aufräumaktion zur Unordnung

In der vorangegangenen Episode – SF 182 „Platz schaffen für das Wesentliche“ habe ich Ihnen über meine große private Aufräumaktion berichtet. Und ich hatte Ihnen drei Anregungen gegeben, um mehr Platz für das Wesentliche zu schaffen.
Heute will ich mit einem Plädoyer für Unordnung starten. Wie passt das mit den voran gegangenen Podcast-Episoden zusammen? Lassen Sie sich überraschen und inspirieren.


Unordnung ist nicht gleich Unordnung

Zu dieser Folge hat mich übrigens ein Exzerpt gebracht, dass ich bei meiner Aufräumaktion im privaten Keller fand – Zufall oder Fügung? Es ist ein Auszug aus einem Buch des Philosophen Arno Plack („Philosophie des Alltags, Stuttgart 1979, S. 56f).
Zum Thema Unordnung heißt es dort wie folgt: „Unordnung ist nicht gleich Unordnung. Die Unordnung des produktiven Menschen unterschiedet sich von gewöhnlicher Unordnung gerade dadurch, daß aus ihr immer wieder etwas >Ordentliches< hervorgeht, auch dadurch, daß die Unordnung stets aufs neue umgepflügt wird.“
Und weiter: „In dem Maße, in dem eine künstlerische oder wissenschaftliche Arbeit voranschreitet, verändert sich auch das, was dem daran nicht Beteiligten als Unordnung erscheint. Er [der Nicht-Beteiligte, BB] wundert sich, wie man es in >solch einer Unordnung< überhaupt aushalten kann.“
Und jetzt kommt das in meinen Augen Wesentliche: „Er ahnt nichts von der stimulierenden Kraft, die von Unordnung auf den produktiven Menschen ausgeht: Sie stimuliert ihn wie jedermann, Ordnung zu schaffen; aber er schafft sie dann auf seine unverwechselbare Weise. Einmal als Stimulanz erkannt, mag Unordnung von ihm auch arrangiert werden.“
Plack verweist in dem von mir ausgewählten Auszug auch auf Goethe, ich zitiere: „Goethe hat es zugegeben: daß eine Wohnung für ihn nicht zu ordentlich sein durfte, wenn er darin noch arbeiten wollte.“ Zitat Ende.

 


Büro: Ordnung, Chaos – ein Mix! 

Wenn ich mir die Fantasien von Büroeinrichtern in den letzten zwanzig Jahren ansehe, dann sind mindestens zwei Trends erkennbar, die in meinen Augen gegeneinander laufen. Da ist zum einen die Entwicklung, das Büro dem Privatraum anzugleichen mit Teppichen, Bildern, mindestens einer Coach zum Entspannen und so fort. (hören Sie dazu auch mein Gespräch mit Marc Nicolaisen von Steelcase, Episode SF176 „Wozu Büros?“ https://ld21.de/sf176-wozu-bueros-steelcase/).
Und da ist schon lange die andere Entwicklung, jedem Mitarbeiter – männlich oder weiblich oder divers… – im Maximum einen Container anzuvertrauen, mit dem man sich auf die Suche nach einem noch freien Arbeitsplatz begeben soll.

Allein die Vorstellung, die Arbeit im Wesentlichen lediglich auf einem Laptop zu erledigen, ist für mich als kreativer Mensch befremdlich. Klar, mittlerweile sind die zur Verfügung stehenden Schreibtische vielfach mit Zweit-Monitoren bestückt, die ich dann anschließen kann, oft gibt es auch ein separates Keyboard. Mag sein, dass dieses Setting für bestimmte Arbeiten geeignet ist und sich so rechnet. Ich wage an dieser Stelle mal die Behauptung, dass Menschen in solchen Bedingungen zu den ersten zählen, deren Arbeit durch künstliche Intelligenz eingespart bzw. ersetzt wird.

Gegenbeispiel: Vermutlich haben Sie alle schon mindestens einmal die Arbeitsplätze von Grafikerinnen und Grafikern gesehen: diese sind fast immer höchst bunt und für einen „Leertischler“ eine Zumutung. Für diese kreativen Menschen ist es eine förderliche Umgebung. Würde ich als Chef diese Menschen per Container durch das Großraumbüro schicken, so ginge die Kreativität auf dem Weg verloren, jede Wette. 

Ein anderes Beispiel, selbst erlebt: Ich erinnere mich an einen Workshop für einen großen Hersteller von, sagen wir, alternativen Kosmetik-Artikeln. Meine Aufgabe als Moderator war es, die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Bereichen zu verbessern. Wir fanden bald heraus, dass die Förderung der Kooperation vor allem auch räumlich-zeitliche Aspekte umfasste. Was meine ich damit? Üblicherweise trafen sich die Beteiligten aus den verschiedenen Bereichen für Sitzungen. Dort entwickelte man Flipcharts, Ablaufdiagramme, to-do-Listen. Dann fotografierte man alles, fasste es zu einem digitalen Dokument zusammen – und das war es dann. Wir hatten im Workshop dann die Idee, jeweils einen Projektraum aufzubauen, der über einen längeren Zeitraum auch tatsächlich dem Projekt zur Verfügung stand. So konnte die Gruppe an den Flipcharts etc. bei jedem neuen Meeting sofort weitermachen. Dies wurde, wie mir TN später berichteten, tatsächlich erfolgreich umgesetzt. Ein Projektraum wurde zu einem Setting, das über einen längeren Zeitraum bestehen blieb.

Wer auch immer unter Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer, jetzt der Finanzer oder die Controlleurin ist: sie werden sich fragen, wie das denn funktionieren kann. Soll dann jedes der zahlreichen Projekte über Wochen oder Monate einen eigenen Raum bekommen? Nun, das wird vermutlich nicht bezahlbar sein. Aber, und das bestätigen mir andere Kunden, es gibt variable Lösungen. Waren Sie einmal in den Ateliers von Malern? Vermutlich ja. Oft finden wir dort gerüstartige Konstruktionen, in die die Leinwände hineingeschoben werden, wenn die Künstlerin gerade nicht an ihnen arbeitet. Museumsarchive weisen ähnliche Konstrukte auf. Ich sehe mich durch einige meiner Kunden bestätigt, dass wir in vielen Fällen tatsächlich wieder raumgreifender und analoger arbeiten sollten, um kreativ neue Lösungen oder Produkte zu entwickeln. Der Ansatz des „Design Thinking“ predigt dieses vor allem auch haptische Vorgehen ja schon lange.

Ich behaupte an dieser Stelle nicht, dass alle Aufgaben in einem Unternehmen unter solchen kreativen Bedingungen erledigt werden können oder sollten. Aber ich rate dazu, viel stärker darüber nachzudenken, welche Aufgaben von welchen Menschen in welchen Kontexten am Besten erfüllt werden können. Und natürlich gehören zur Vielfalt der Räume auch das Homeoffice und die sog. Third Spaces, also Cafés, Co-Working-Spaces, die Bank am Fluss und so fort.

Übrigens passt mein Verständnis und mein Modell von Selbstführung genau dazu. Ich konnte in mehr als dreißig Jahren als Berater unternehmerischer Menschen feststellen, dass der Aspekt der alltäglichen Organisation der eigenen Aufgaben unbedingt individuell betrachtet werden muss. Insofern sind alle Versuche, einheitliche Plattformen der Kommunikation, Kooperation, Ablage und so fort zu schaffen – die feuchten Träume der Anbieter wie Microsoft – kritisch zu beleuchten: wo werden Prozesse und Strukturen den Individuen übergestülpt und wo wird damit deren Kreativität erstickt? In Bezug auf mein Konzept der Selbstführung betone ich immer wieder, dass diese vor allem aus drei Komponenten besteht:
Selbsterkenntnis, Selbstverantwortung und Selbststeuerung.

Und letztere, also die Steuerung der eigenen Person, braucht eben individuelle, angemessene Prozesse und Strukturen, damit sich der jeweilige Beitrag zur Wertschöpfung auch entfalten kann.

Ich bin mir sicher, dass der Veränderungsdruck, der sich schon jetzt vor allem durch Anwendungen der Künstlichen Intelligenz ergibt, diese Notwendigkeit der Individualisierung noch steigert. 


Fazit und Check

Aus meiner Sicht gilt es, die widerstrebenden Ziele in sinnvoller Weise in einen Ausgleich zu bringen: einerseits sollen Arbeitsplätze so kostengünstig wie möglich sein; andererseits gilt es, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern “gedeihliche Bedingungen” zu schaffen, unter denen diese wirksam arbeiten können. Und wir Menschen sind verschieden, daher benötigen unterschiedliche Individuen mit unterschiedlichen Aufgaben auch eine entsprechende Vielfalt an Arbeitsplätzen. Das bedeutet eben auch, dass es “cleane” und “chaotische” Schreibtische geben muss.

Nicht zuletzt liegt darin auch eine Antwort auf die Frage, wie wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dazu bewegen, doch wieder häufiger ins Unternehmen zu kommen. Schließlich wollen wir der Gefahr vorbeugen, dass  eine fast ausschließliche Arbeit im Home Office auch dazu führen kann, dass die Identifikation mit dem Arbeitgeber zügig abnimmt.

Prüfen Sie, gerne auch in Ihrer Führungsgruppe, wie es in Ihrem Unternehmen steht:

  • Glauben Sie, dass Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gerne ins Unternehmen kommen? Haben Sie das schon einmal – nach der Pandemie – abgefragt?
  • Bieten Sie einen Kontext und eine Varianz von Arbeitsmöglichkeiten, die der Bandbreite der Individuen und Aufgaben entspricht?
  • Ist die Zuständigkeit für dieses Thema auf der ersten Führungsebene verankert? Wer ist zuständig?
  • Welche Auswirkungen werden technologische Entwicklungen – voran die KI – auf Ihre Bürokontexte haben?

 


Musik im Vor- und Nachspann
by Joakim Karud http://soundcloud.com/joakimkarud


 

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